Wie eine Familie die Häftlingszeit des Vaters erlebt hat

Zum Gedenktag an den Holocaust am 27.01.2018

 

Als der Krieg am 8.Mai 1945 zu Ende war, blieb in unserer Familie das Gefühl der Bedrohung bestehen.

 

In Bochum ausgebombt und in das kleine Dorf Dahlerbrück im Sauerland evakuiert lebten wir mit fünf Personen auf einem Dachboden.

Wir, das war zuerst unsere vom Krieg verstörte und verwüstete Mutter und wir vier Schwestern, die die Schreckenszeit völlig unterschiedlich durchlebt hatten.

 

Meine älteste Schwester übernahm die Verantwortung für uns ganz persönlich und für die praktischen Überlebensfragen. Selbst auf dem Weg, eine eigene Familie zu gründen und belastet mit den Erfahrungen einer Kindheit und Jugend, die unter Ausgrenzung und Missachtung der Nazizeit stand. Meine nächstjüngere Schwester, 1927 geboren. lebte längere Zeit bei der Schwester unserer Mutter und fand kaum ihren Platz in der Restfamilie.Völlig verstört war unsere Schwester, die bei Kriegsende 12 Jahre alt war und schmerzlich den Vater vermisste und gleichzeitig überfordert war, sich in der fremden Umgebung zurecht zu finden. Noch heute mit 84 Jahren, wenn es auf diese Zeit zu sprechen kommt, sagt sie die Häftlingsnummer unseres Vater 38585 auf.

 

Mein Leben begann in den Bombenangriffen 1944 über Bochum. Ein Grundgefühl hat sich für mein Leben schon sehr früh ausgebildet: Die Erfahrung, nicht dazu zu gehören.

Wir gehörten nicht zu der Dorfgemeinschaft.

Wir konnten nicht mit den Familien gemeinsam trauern, die den Vater oder Bruder im Krieg verloren hatten. 

Wir wurden zum lebendigen Vorwurf für alle, die sich mit der jüngsten Vergangenheit nicht auseinandersetzen wollten.

Um mit diesen Gefühlen überleben zu können, und dem eigenen Leben eine Zukunft geben zu können, begann eine ängstliche unruhige Suche nach den Wurzeln und ein Drang, mehr über die vergangene Zeit zu erfahren.

 

Was für eine Familiengeschichte hatten wir mitgebracht in die beschauliche Sauerländer Welt? Unser Vater Max Michaelis, wurde am 10.07.1898 in Pielburg, Pommern geboren. Im ersten Weltkrieg hat er als siebzehnjähriger im Baltikum gekämpft und eine Tapferkeitsauszeichnung bekommen. Unsere Eltern führten eine „privilegierte Mischehe“ (Nazijargon). 1935 verliert er, ausgelöst durch die Nürnberger Rassengesetze seine Arbeit und wir als die Familie die Wohnung. Ab 1938  wird er im Arbeitslager Bergkamen zum Ausbau der A1/2 zur Zwangsarbeit gezwungen. Unsere Mutter musste für den Unterhalt des Vaters jeden Monat 120,00 Reichsmark zahlen. Es bestand, für ihn die Möglichkeit, immer wieder Kontakt zur Familie aufzunehmen. Wie bedrängend diese Zeit war, möchte ich an einer Erfahrung meiner ältesten Schwester deutlich machen. Sie war auf dem Weg zur Schule, als ihr eine Kolonne Zwangsarbeiter entgegenkam, die durch Bochum geführt wurde. In der Gruppe von Männern entdeckte sie unseren Vater, und der Schreck und die Angst waren so groß, dass sie sich in einen Hausflur flüchtete. Bis ins hohe Alter hinein ist sie die Belastung nicht losgeworden, unseren Vater dadurch verraten zu haben.

 

Ab 1943 kam er ins Sammellager Oestrich, von dort, dann auf Grund eines Haftbefehls überführte ihn die Staatspolizei am 27.09.1944 in die Steinwache Dortmund. Die Steinwache galt im Ruhrgebiet als „Hölle Westdeutschlands“. 

Ab da ist der Verbleib unseres Vaters nur noch in Ansetzen nachvollziehbar:  

Polizeigefängnis Herne, KZ Neuengamme bei Hamburg und am 2.12.1944 bekommt er in Buchenwald die Häftlingsnummer 38585.

 

Am 08.01.1945 ist er bei dem Marsch von Buchenwald nach Flößberg dabei.

In Flößberg angekommen verliert sich die Spur meines Vaters. Für uns als Familie gab es keine Information über den Aufenthaltsort unseres Vaters. Ins Leere hoffen hieß das für uns über einen langen Zeitraum. Aus Buchenwald kam ein persönliche Brief ,der starke Erwartungen weckte, dass er die schreckliche Zeit überleben würde. Die Unsicherheit und ein Leben in der Warteschleife verbrauchte alle Energien. Gab es einen richtigen Zeitpunkt ihn für tot zu erklären? Bei wem konnte echte Hilfe erwartet werden?

 

Die Tatsache, dass nach dem Kriegsende an den Ämtern die gleichen Leute saßen wie zur Nazizeit,  und auf deren Wohlwollen wir angewiesen waren, damit unsere Mutter eine Rente bekam, diese Demütigungen haben tiefe Spuren hinterlassen. Nachweisen zu müssen auf welche Weise unser Vater verfolgt wurde, wie lange er den Stern tragen musste und ob wir berechtigt sind,  überhaupt Forderungen zu stellen.

 

Das Vergangene hörte nicht auf zu sprechen und mit immer weniger Menschen konnte darüber gesprochen werden. Ich empfinde bis heute eine Zurückhaltung und Scheu über meine Familie zu sprechen. Die Reaktionen, die ich im Besonderen befürchte, waren und sind,  Erklärungs- und Leugnungsmuster.  Auch die Sprache ist schwierig. Wie verharmlosend hört es sich an zu sagen: „Mein Vater ist umgebracht worden.“ Nein: „Er ist ermordet worden.“ Ermordet durch unerträgliche Arbeit, ausgehungert durch Gewaltanwendung. Nur schwer haben wir erfasst was hinter dem Namen „Konzentrationslager Buchenwald“ zu verstehen war. Unbeschreibliche Gefühle, die nicht in Worte übersetzt werden konnten. Die Vaterleerstelle wurde mit Phantasien gefüllt und erschwerte die Auseinandersetzung mit der Realität. Weniger das Gesagte als das Ungesagte zeigte Wirkung. Der Wunsch, auf die eigene Herkunft stolz zu sein, eröffnete eine Suche nach Großeltern, Tanten und Onkeln und behinderte in der Gegenwart zu leben. Ein Teil des Lebens blieb in der verlustreichen Zeit stecken.

 

In diesem Sommer habe ich die Gedenkstätte Flößberg aufgesucht. Den Mitarbeitern der Gedenkstätte möchte ich für ihren persönlichen Einsatz an Zeit und innerer Beteiligung von Herzen danken. Sie haben mich so freundlich und persönlich empfangen und mir hier einen Erinnerungsort geschaffen.

 

Ob Sie der Einblick in unsere Familiengeschichte zum Mitfühlen bewegt hat, kann ich nicht sagen, ich hoffe es allerdings, und neben meinen Worten wünsche ich mir, dass Sie heute, wie in Israel zum Gedenktag an die Shoah, eine Minute schweigen und Ihren eigen Gedanken und Gefühlen Raum geben. 

 

Auch wenn es ungewöhnlich klingt, bin ich sowohl getröstet als auch traurig nach Hause gefahren: Einerseits bin ich getröstet durch die Erfahrung der Nähe zu seinem letzten Ort. Andererseits bin ich traurig, dass ich seinen Namen auf der Gedenktafel am Friedhof nicht gefunden habe; denn er gehört zu den unbekannten Toten, die zwischen dem 27.03.1945 und der Evakuierung umgekommen sind. Nur wer vergessen ist, ist für immer tot.

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© Christine Michaelis